Bei der Lektüre des Artikels „Ich war es nicht!“ in DIE ZEIT Nr.42 2007 kommt der soziologisch gebildete Leser nicht umhin, ein Defizit zu bemerken. Der Autor Thomas Assheuer schreibt über die von der Hirnforschung aufgestellte Theorie, dass es weder persönliche Schuld noch Freiheit gibt. Er stellt dazu eingangs die Frage, wie es kommt, dass die Gesellschaft sich jubelnd an diesem Konzept berauscht. Seine Erarbeitung des Problems ist in sich stimmig und intelligent, lässt jedoch einen Aspekt völlig außen vor: Die Tatsache nämlich, dass genau die gleichen Ideen bereits seit den 70er Jahren von Dekonstruktivisten wie Michel Foucault vertreten werden. Es geht also nicht, wie der Autor mit einem Schwenk auf die Wissenschaftsgeschichte erklärt, um „eine neue Runde“ in einem alten Streit zwischen den Deterministen und den Verfechtern des selbstständig handelnden Menschen. Die Runde, in der das Subjekt mit seiner Autonomie, seiner persönlichen Verantwortung und seinem freien Willen zerlegt beziehungsweise dekonstruiert wird, hat schon längst begonnen. Ob diese neue Runde – wie oft argumentiert – bereits durch die Theorien des Sprachwissenschafters Ferdinand de Saussure eingeläutet wurde oder nicht und ob sich ein genauer Zeitpunkt dafür überhaupt bestimmen lässt, sei dahin gestellt. Um ein wirkliches Verständnis der gegenwärtigen Situation herbeizuführen, sollte man sich allerdings die anderen Kämpfer, die aktuell im Ring stehen, genauer ansehen. Besonders auffällig ist dabei, dass die Dekonstruktion der oben genannten Fähigkeiten zunächst nicht so begeistert von der Gesellschaft aufgenommen wurde.
So schreibt etwa die amerikanische Soziologin und Philosophin Judith Butler in Anlehnung an Foucault bereits seit über einem Jahrzehnt (unter anderem) über die Auflösung des Individuums. Dabei geht die kritische Spannung zwischen Kultur und Gesellschaft, von der Assheuer spricht, genauso verloren, wie durch die konsequent zu Ende gedachten Theorien der Neurologen. Allerdings mit einem Unterschied und vielleicht liegt hier ein Grund dafür, warum die Rezeption von Butlers Theorien bei Weitem nicht als „berauscht“ beschrieben werden kann. Sicherlich hat dies auch damit zu tun, dass die Naturwissenschaften derzeit stärker in Mode sind als die Geisteswissenschaften. Die Spannung wird nicht in einer alles beherrschenden Natur des Menschen aufgelöst, sondern in einer alles beherrschenden Kultur. Butler entwirft einen Blick auf das Konstrukt Individuum, der es in einen sozio-historischen Rahmen einbettet. Sie geht davon aus, dass Subjekte in bestimmten zeitlichen und sozialen Kontexten von ihrer Umwelt konstituiert werden. Das kulturelle Umfeld bringt zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Art Mensch hervor, der dann auf bestimmte bereits bestehende Handlungsmöglichkeiten zurückgreift.
Ob nun allerdings die Kultur oder die Natur als Urheber eines fremdgesteuerten Individuums gesehen werden, macht in letzter Konsequenz keinen großen Unterschied. Denn auch die Neurologie muss durch den Umstand, dass das Gehirn und seine neuronalen Verbindungen sich nur durch äußere Einflüsse entwickeln, einen Umwelteinfluss zugestehen. Und ein Dekonstruktivist kann das Vorhandensein gewisser natürlicher Gegebenheiten der menschlichen Konstitution niemals ganz leugnen. Der Prozess, mit dem in beiden Fällen das menschliche Wesen als nicht durch sich selbst bestimmt charakterisiert wird, ist also zumindest sehr ähnlich. Was bei den Dekonstruktivisten wie Butler allerdings hinzukommt, ist, dass die Prozesse der Entstehung des Subjektes detailliert beleuchtet werden. Sie untersucht die Faktoren, welche die Subjektbildung beeinflussen und auch die Möglichkeit der Beeinflussung dieser Faktoren. Dadurch, dass sie mit einer kulturellen Konstruktion arbeitet, ergeben sich solche Möglichkeiten natürlich relativ leicht – zumindest theoretisch. Sie setzt sich also mit den moralischen und handlungstheoretischen Folgen einer Auflösung des Individuums auseinander. Dabei wirft Butler ganz konkrete Fragen nach der individuellen (auch geschlechtlichen) Identität, nach Vorlieben, Wünschen und Gefühlen von Personen auf und untersucht, wie man in diesem Zusammenhang zwischenmenschliche Beziehungen beschreiben kann. Obwohl man an diesem Punkt einwenden muss, dass die Neurologie (oder die Thesen der Neurologie, die populärwissenschaftlich diskutiert werden) eine Beeinflussung durch die Umwelt (und sei es durch genetische Manipulation) prinzipiell ebenfalls zulässt.
Genau hier liegt aber der eigentliche Unterschied zwischen den beiden skizzierten dekonstruktivistischen Herangehensweisen. Der soziologische Dekonstruktivismus, als alter Kämpfer, der schon lange im Ring steht, hat bereits Weltbilder entworfen, in denen auch ein nicht mehr freies Individuum handeln und Verantwortung übernehmen kann. Selbstverständlich treten bei den dekonstruktivistischen Theorien hier viele komplexe Probleme auf. Die ersten Schritte in diese Richtung sind aber getan. Der neurologische Determinismus – so wie er bislang in seiner populären Form auf der Bühne der öffentlichen Diskussion erschienen ist – bringt zunächst einmal lediglich die reine Dekonstruktion des freien Willens und der persönlichen Verantwortung in den Ring. Es scheint, als wäre dieser Blanko-Freispruch an sich für die Menschen zunächst reizvoll. In den 90er Jahren haben sie sich hingegen stark gegen die dekonstruktivistischen Theorien einer Judith Butler gewehrt. Dies mag daran liegen, dass die Welt mittlerweile immer globalisierter und unüberschaubarer geworden und das Bedürfnis nach einer Pause im selbstständigen Denken und Handeln somit heute gewachsen ist. Aber es könnte auch schlicht und einfach daran liegen, dass der neurologische Determinismus noch nicht so weit in das Privatleben vorgedrungen ist, wie die Dekonstruktivisten. Werden seine Theorien bald auf einer intimeren Ebene diskutiert und fühlen sich die Menschen erst in ihren sexuellen und sonstigen individuellen Bedürfnissen hinterfragt und beeinträchtigt, wird der Jubel eventuell abrupt nachlassen. Wie Assheuer in seinem Artikel unter Bezugnahme auf Friedrich Schiller ganz richtig bemerkt, macht die Gesellschaft doch jeden Tag in den zwischenmenschlichen Kommunikationszusammenhängen die Erfahrung, dass sie sehr wohl etwas entscheiden, handeln und urteilen können. Wirklich bejubelt werden wird wohl erst ein Dekonstruktivismus – egal ob natur- oder geisteswissenschaftlicher Art – der diese kommunikativen Alltags-Erfahrungen überzeugend integriert.
Wenn allerdings die dekonstruktivistischen Tendenzen seit mehreren Jahrzehnten in unserer Gesellschaft erkennbar sind und anscheinend auf eine steigende Zahl wissenschaftlicher Disziplinen überspringen, ist es nicht damit getan, auf Problembereiche dieser Denkweise hinzuweisen. Zudem ist die wissenschaftliche Ausbreitung – ganz abgesehen von den sonstigen Bereichen der Gesellschaft, in dem man ihm begegnet – ein Zeichen dafür, dass er mehr ist als eine Mode-Erscheinung oder das temporäre unterbewusst ausgedrückte Bedürfnis einer Gesellschaft, die Verantwortung für ihr Tun abzugeben. Vielleicht ist dies tatsächlich nur eine Runde im alten Streit zwischen den Deterministen und den Verfechtern des selbstständig handelnden Menschen. Aber es scheint eine lange Runde zu sein, in welcher der Determinismus derzeit die spannendere und Erfolg versprechendere Technik hat. Auf jeden Fall lohnt es sich, diesen Kampf genau zu verfolgen. Vielleicht bringt er uns mit der Zeit eine ganz neue Sicht auf die Welt, die überzeugen und inspirieren kann. Vielleicht gelingt es ihm tatsächlich, die zerrissenen Verhältnisse der globalisierten Welt in neue Zusammenhänge zu stellen, die wieder mehr Sicherheit und Ordnung bieten, ohne dabei die alltäglichen Kommunikations-Erfahrungen der Menschen zu verleugnen.
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