Oktober 14, 2011

Gerechtigkeit und Individualismus – Widerspruch oder Wechselwirkung?


Gerechtigkeit setzt ein Denken von oben bzw. vom Ganzen her und nicht vom Einzelnen voraus. Nichtsdestotrotz muss dieses Denken vom Einzelnen ausgehen. Auch wenn es zu einem kollektiven, geteilten, intersubjektiven Denken wird, muss der Einzelne anfangen zu denken, bevor sein Denken sich in dieses größere Denken einbringen kann. Sein Denken ist allerdings wiederum vom Einfluss seines sozialen Umfeldes abhängig – bekommt er keine Muster, Techniken, Strategien, Inhalte bzw. Symbole geliefert, mit denen er denken kann, wird er niemals anfangen zu denken. Genau so wenig wie ein Kind anfangen wird zu sprechen, mit dem nie jemand spricht. Daher scheinen die Begriffe Gerechtigkeit und Individualismus bei genauerer Betrachtung im herkömmlichen Sinn einfach einen Teil ihrer Bedeutung zu unterschlagen. Das Denken von oben verweist immer schon auf den Einzelnen, der Teil davon ist. Individualismus hingegen bedeutet immer bereits eingebunden sein in eine soziale Gemeinschaft, die denkfähig macht und gleichzeitig Normen liefert, nach denen Gerechtigkeit bestimmt werden kann.

Oktober 07, 2011

Facebook als kollektive Kleinstadt

Besonders nach den neuesten Entwicklungen auf der Social-Network-Plattform (siehe gestrigen Beitrag) muss man sich fragen, ob Facebook die Funktion der kleinstädtischen Gemeinschaft übernimmt. Ist es nicht gerade einengend, dass eine sozial engmaschig gestrickte Gemeinde immer alles mitbekommt? Zudem meine ich mich zu erinnern, dass ein Grund aus der Kleinstadt zu fliehen darin bestand, dass man immer gleich behandelt wurde. Egal wie sehr man sich entwickelte und was man vielleicht in der Zwischenzeit erlebt hatte, wenn man zurückkam, wurden immer wieder alte Geschichten aufgewärmt. Man wird in solchem Umfeldern immmer wieder auf ein altes Ich angesprochen, auch wenn man dies längst hinter sich gelassen hat. Dieses Phänomen tritt manchmal auch bei Familienmitgliedern auf, die man selten sieht oder generell bei Eltern, egal wie oft man sie sieht und könnte Zwangsidentifizierung genannt werden. Wie schön, dass der gesamte Freundeskreis über die Timeline jetzt ebenfalls eine noch bessere Möglichkeit hat, auf alte Erlebnisse zurückzukommen, die man längst hinter sich gelassen hat. Ob Großstädter wohl gedankenloser mit ihren Informationen in sozialen Netzwerken umgehen als ehemalige Kleinstädter?

Oktober 06, 2011

Anthropologisches Neuland im Buch der Gesichter?


Facebook eröffne mit der neuen Funktion Timeline anthropologisches Neuland, so Nina Pauer über die Möglichkeit automatisch die Chronologie des eigenen Lebens erfassen zu lassen. In die Timeline soll alles einbezogen werden, was der Nutzer je geposted, getan, erlebt hat und aktuell erlebt. Mit der passenden App kann sogar in Echtzeit elektronisch alles übermittelt werden, was man gerade tut – welchen Weg man geht und welchen Song man dazu hört. Ist dies so neu? Mark Zuckerberg scheint zu denken, er perfektioniere nur, was die User sowieso schon tun. Und die Erzählung des eigenen Lebens ist schließlich eine anthropologische Konstante – so alt wie das Leben selbst. Pauer wendet ein: „Eine Biografie ist mehr als ein Protokoll“ und macht darauf aufmerksam, dass nichts mehr aus diesem interaktiven Lebenslauf gelöscht werden kann (Pauer, 2011 50).

Dieses „Nicht-vergessen-Können“ scheint mir tatsächlich ein Problem darzustellen (ebd.). Vorausgesetzt, Facebook behält den relativ hohen gesellschaftlichen Stellenwert, den es derzeit hat. Schließlich lebt unsere Lebensgeschichte davon, dass wir sie ständig umschreiben, neu schreiben. Wir sind nicht mehr die, die wir vor zehn Jahren waren, vermutlich nicht mal mehr identisch mit der Person, die wir vor einem Monat waren. Dies hat nicht nur mit Verdrängung zu tun oder der Verarbeitung etwaiger Traumata. Selbstverständlich hat eine Person von dreißig Jahren weder die gleichen Freunde oder Lebensumstände, noch die gleichen Ansichten, Vorlieben, Vorstellungen von Liebe, Freundschaft, Politik oder Zukunft wie mit fünfzehn. Zudem erinnert sie sich nicht mehr an alles, was ihr in der Zwischenzeit passiert ist. Wir haben zwangsläufig andere Erinnerungen als wir vor zehn Jahren hatten und wir selektieren diese auch. Was uns nicht mehr wichtig erscheint, wird vergessen, was nicht mehr zu uns passt, wird verändert. Wie wir die Welt sehen, ist immer bis zu einem gewissen Grad subjektiv. Man denke nur an die sprichwörtlichen zehn verschiedenen Zeugenaussagen von zehn verschiedenen Zeugen.

Was wird es also mit uns machen, wenn wir plötzlich nicht mehr selbst entscheiden können, was wir vergessen oder umdichten wollen? Was geschieht mit einer Generation, deren Leben ab der frühesten Jugend elektronisch dokumentiert ist und deren Mitmenschen ständig dieses Protokoll ansehen können? Menschen, die sich nicht mehr von kleinen oder auch größeren Jugendsünden distanzieren, Peinlichkeiten aus der Erinnerung streichen können? Wie geht es Personen, die ständig die alten Beziehungen (seien sie nun freundschaftlich oder sexuell) vor Augen haben oder vor Augen geführt bekommen? Ist das vielleicht völlig irrelevant, weil wir uns diese Protokolle sowieso nicht mehr ansehen oder die Daten trotzdem unserer jeweiligen zukünftigen Person entsprechend interpretieren werden? Analoge Fotoalben oder aufbewahrte Briefe verdammen uns schließlich auch nicht dazu, uns nicht mehr weiterzuentwickeln.

Und doch… ich erinnere mich noch gut daran, wie heilsam mein erster Auslandsaufenthalt war. Ich konnte einem ganz neuen, ganz anderen sozialen und kulturellen Umfeld entgegentreten, ohne dass dieses großartige (persönliche) Vorurteile gegen mich hatte. Natürlich war ich das Mädchen aus Deutschland und die Ausländerin. Aber ich konnte ausprobieren, ob ich als Person tatsächlich die sein wollte, die ich bislang gewesen war. Nicht, dass ich mich dadurch so sehr verändert hätte. Im Gegenteil war es sogar bestärkend für mich zu sehen, dass ich offensichtlich immer schon ich selbst gewesen war, wie man so schön sagt. Aber diese Freiheit, diese Möglichkeit des neuen Anfangs, so anstrengend er auch mit zunehmendem Alter wird, scheint mir wichtig zu sein und durch die neue Funktion beschränkt zu werden. Selbst die kleinen neuen Anfänge, die jeder neuen Freundschaft und jeder neuen Liebe innewohnen, sind nicht mehr neu, wenn der andere jederzeit die ganze Vergangenheit auf Facebook einsehen kann.

Würde ich ständig an meine Schulzeit erinnert werden wollen? Wie würde ich mich fühlen, wenn ich nie vergessen könnte, wie mich die Klassenkameraden zu einer bestimmten Zeit gehänselt haben oder wie sehr ich einmal in jemanden verknallt war? Und wenn jeder neue Freund dies ebenfalls sehen könnte? Bleibt nur zu hoffen, dass die Menschen verantwortungsvoll mit dieser Möglichkeit umgehen und sich bewusst machen, dass es sich hierbei eben nicht um meine Vergangenheit handelt, wie sie tatsächlich passiert ist. Es ist nicht die Vergangenheit, die mich zu der Person gemacht hat, die ich heute bin. Diese Person entspringt meiner eigenen Erzählung mit allen Änderungen und Auslassungen und das ist eben eine echte Biografie und kein simples Protokoll.

Quelle:
Pauer, Nina. „Die Utopie ist da – ‚Timeline’, das neue Angebot von Facebook, macht es möglich: Das Leben und das Leben im Netz verschmelzen.“ DIE ZEIT 40 29.9.2011, 49f.