Die Evolutionstheorie besagt meines Erachtens ungefähr etwas in
der Art, dass die fittesten Exemplare bestimmter Spezies überleben und
ihre Gene weitergeben. Wie bereits vor mir andere Denker bemerkt haben, scheint diese
Eigenschaft des Fit-Seins allerdings in letzter Konsequenz wiederum
durch nichts anderes definiert als durch das Überleben. Eine zirkuläre
Begründung muss derart evolutionären Systemen demnach aller Wahrscheinlichkeit
zur Last gelegt werden. Dieser Widerspruch setzt sich fort, wenn auch noch
versucht wird, dieses Gedankenmodell in die soziale Welt zu verlegen: Die
Schwachen bleiben halt auf der Strecke. Sollen sie doch! Raus mit Griechenland
aus der EU! Genetische Tests und Abtreibung für alle Föten, die nicht der Norm
entsprechen!
An dieser Stelle ist man gezwungen, inne zu halten.
Denn auch wenn des Öfteren behauptet wird, der Mensch sei das einzige
Lebewesen, dass sich um die Kranken und Schwachen kümmere, die dann
zwangsläufig das System überlasteten, stellt sich die Grenzziehung zwischen dem
Normalen (vermeintlich Starken) und dem nicht der Norm entsprechenden
(vermeintlich Schwachen) als unmöglich heraus. Wenn das Stark-Sein, in welches
das ursprünglich eigentlich eher vage Fit-Sein gerne übersetzt wird,
letztlich nichts anderes als Überleben bedeutet, dann ist quasi das
reine Dasein schon Beweis für Stärke. Allein die Tatsache, dass bestimmte
Menschen existieren, die oft als vermeintlich schwach beschrieben werden,
belegt dann schon, dass sie eigentlich stark sind. Umgekehrt wäre der Tod, die
bewusste Selektion, das Ausgrenzen, Abtreiben oder Umbringen der einzige
schlagende Beweis für ihre Schwäche.
Wer darf behaupten, dass medizinische Entwicklungen
zur Steigerung des Überlebens nicht zur Evolution gehören? Was wäre das für
eine Biologie, in der man davon ausginge, dass die kognitive Leistungsfähigkeit
der Menschen, die technische bzw. medizinische Unterstützung möglich macht,
nicht mehr zur biologischen Entwicklung gehört? Nur weil der Mensch gelernt
hat, einige Mitglieder seine Spezies länger am Leben zu halten als in früheren
Zeiten, scheint es kaum gerechtfertigt hier von einer außer-biologischen (bzw.
irgendwie ungerechtfertigten) Einflussnahme auf die Evolution zu sprechen. Was außer
ihrer Entwicklung könnte die Maßnahmen sich entwickelnder Spezies in diesem
evolutionären Zusammenhang rechtfertigen?
Entweder man überlebt oder man überlebt nicht. Darf
man an dieser Stelle eine Grenze zwischen quasi unzulänglich hoher
medizinischer Unterstützung ansetzen, die es erlaubt, doch zwischen den Starken
und Schwachen zu unterscheiden? Auch die Angriffe anderer Spezies können zu
unserem Tod führen. Ist die Fitness anderer Tiere daher als menschliche
Schwäche auszulegen? Ist unsere Zivilisation, die Angriffe von Tieren
zurückgedrängt hat, ein unbefugter Eingriff in die Evolution? Bedenkt
man, wie viele vermeintlich normal gesunde Menschen nach wie vor an
Infektionen oder einer einfachen Grippe sterben, wäre es wohl eher absurd,
davon auszugehen, dass eine Impfung oder eine infektiologische Behandlung
Zeichen von Schwäche darstellen, die eigentlich zur evolutionären Selektion
geführt hätten oder sogar hätten führen müssen. Was außer dem Überleben
könnte in einer Evolutionstheorie dafür angeführt werden, dass jemand überleben
darf?
Überleben – auch das Überleben einer Spezies in ihrer
Gesamtheit – scheint zu sehr von Zufällen abzuhängen. So sollte man nicht
versuchen, eine Trennlinie zwischen den normalen und den vermeintlich
auszumerzenden Individuen zu ziehen, sondern akzeptieren, dass alle überlebt
haben und so lange sie überleben zu dem gehören, was Fitness ausmacht.
Wäre dies nicht so, hätte der Satz vom survival of the fittest keinerlei
Bedeutung. Vielleicht trifft das sogar zu und es handelt sich hierbei nur um
den verzweifelten Versuch, biologischen Beobachtungsdaten eine teleologische
Stoßrichtung zu verleihen, die sie den Menschen als Erzählung einer auf ein
Ziel gerichteten Entwicklung zugänglich macht. Nichtsdestotrotz teilen wir uns
die Existenz mit allen, die gleichzeitig mit uns existieren. Am Ende wird
keiner von uns mehr fit sein. Ersparen wir uns doch leidige
Diskussionen darüber, wer diese Existenz am ehesten verdient hat und was unwertes Leben sein soll. An diesem Moment der Evolution haben wir alle teil.
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