April 17, 2012
Über Weltliteratur
Große Werke (und damit meine ich nicht nur Literatur im eigentlichen Sinne) sind eigentlich immer hübsch verpackte Banalitäten. Dieser Gedanke kam mir, als ich Harald Martensteins Überlegungen zum kleinen Prinzen las (Martenstein, 2011). Zu den meistgedruckten Büchern der Weltgeschichte sagt er, sie "entwerfen ein Weltbild, sie erschaffen einen geistigen Kosmos, [...] sie bieten ein Identifikationsangebot, das sich gleich für mehrere Generationen eignet" (ebd. 15).
Selbstverständlich müssen diese Bücher einen gewissen Nerv treffen, sie müssen das "Seelenklavier" des Menschen meisterhaft beherrschen und auf ansprechende Weise geschrieben sein (ebd.). Niemand liest, was ihn langweilt oder sie nichts angeht. Natürlich gibt es Dauerbrennerthemen wie die Liebe, Gott, das Gute und das Böse, den Tod etc. Es braucht aber nicht nur eine "schöne Geschichte" und ein gutes Thema (ebd). Die Banalität scheint mir ebenfalls essenziell.
Man muss aus einem Buch nicht notwendigerweise nur eine Botschaft ziehen können. Wichtig ist, dass sich die Botschaft(en) auf einen simplen Kern herunterbrechen lassen. Die überzeugendsten philosophischen Werke bestechen durch Klarheit. Kants kategorischer Imperativ kann als Neuauflage der seit Jahrtausenden überlieferten Goldenen Regel gelesen werden, die sich auch in Sprichwortform niedergeschlagen hat: Was du nicht willst, das man dir tu... Die Bibel liefert Gott als letzte Antwort (ob in seiner Weisheit, seiner Allwissenheit, seiner Gnade, seinem Zorn oder seiner Liebe). Romeo und Julia zeigen, dass ebenjene über alle Grenzen hinweg siegen kann... oder eben nicht.
Ich würde dies auf eine tiefe menschliche Ordnungsliebe zurückführen. Regeln sind leichter auszuhalten als Chaos. Unbeantwortete Fragen spornten im Laufe der Geschichte wieder und wieder zu den kreativsten und bahnbrechendsten Versuchen an, Antworten zu finden. Wieviel menschliche Energie ist in die Wissenschaft geflossen, dieses riesige Projekt, die Welt in ein Raster der Regelhaftigkeiten einzuteilen?! Wir mögen eine wohlgeordnete Realität, ignorieren Unklarheiten eher, als dass wir sie ernsthaft aushalten. Selten verweisen wissenschaftliche Texte auf unlösbare Dilemmata. Lieber schreibt man, gewisse Fragen seien noch nicht beantwortbar oder liefert zumindest den Versuch einer Erklärung.
Je leichter und umfassender eine Botschaft das Verständnis macht, desto attraktiver ist sie für uns. Was man schon kennt, begreift man schnell und je genereller die Aussage, desto größer die Projektionsfläche der Erklärungskraft. Daher üben eben hübsch verpackte Banalitäten eine große Anziehungskraft auf den Menschen aus.
Quelle
Martenstein, Harald. "Das Evangelium nach Saint-Exupéry." DIE ZEIT 29 Dezember 2011 (1) 15ff.
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