In
einer deutschen Zeitung
las ich unlängst einen Artikel über das Phänomen der Transsexualität bei Kindern. Offenbar gehen immer mehr und immer jüngere Menschen davon aus, in
einem Körper mit dem falschen Geschlecht geboren zu sein. Da eine
dementsprechende Behandlung zunehmend gewährt wird und die so im anderen
Geschlecht Lebenden relativ reibungslos ihrem Alltag nachgehen können, spricht
der Autor davon, dass die starren Geschlechtsbilder sich immer weiter aufgelöst
hätten. Ich frage mich, wie man in diesem Fall von einer Auflösung stereotyper
Vorstellungen von Männern und Frauen ausgehen kann. Es scheint mir im Gegenteil
offensichtlich, dass in dieser Entwicklung eine absolute Verhärtung der
Geschlechterstereotype zum Ausdruck kommt.
Der
Autor schreibt: „Der Zuwachs steht für einen grundlegenden Einstellungswandel.
Traditionell waren gerade Heranwachsende auf klar definierte Geschlechterrollen
fixiert: Jungen wollten richtige Männer werden, Mädchen richtige Frauen. Wich
jemand von den Erwartungen ab, kannten die anderen Jugendlichen wenig Gnade“
(Spiewak, 2016 42). Er berichtet vom Schicksal des Jungen Mark, der als Mädchen
Leonie geboren worden war. Bereits in der Grundschule interessierte sie/er sich
für Fußball und andere Ballsportarten und gab sich lieber mit Jungs ab als mit
Mädchen. Nun schreibt der Autor dazu: „Den Mitschülern fiel es kaum auf, die
meisten hielten Leonie ohnehin für einen Jungen mit einem etwas seltsamen Namen“
(ebd. 41). Das soll jetzt also ein gnädigeres Verhalten sein? Die anderen
Kinder beschämen und verfolgen Mark nicht wegen seines geschlechtsuntypischen
Verhaltens, sie sprechen ihm seine Geschlechtsidentität einfach ab. Wer sich
nicht konform verhält, darf und kann in der neuen Einstellung per se einfach kein Mädchen sein.
Inwiefern hier eine Auflösung der Stereotype vorliegen soll, bleibt mir ein Rätsel.
Es ist doch ganz offenbar noch viel klarer begrenzt, was ein Mädchen oder ein
Junge ist. Wer früher vielleicht für sein merkwürdig anmutendes Verhalten
ausgegrenzt wurde, wurde immerhin deshalb so behandelt, weil er sich als Mädchen oder Junge falsch verhielt. Ich will damit nicht
sagen, dass eine solche Ausgrenzung (die ja auch oft mit tätigen Aggressionen
einher ging) moralisch richtig oder psychologisch unbedenklich ist. Aber heute
wird mit dem atypischen Verhalten direkt die Ausgrenzung aus der
Geschlechterrolle begründet. Wer sich falsch
verhält, ist gar kein Mädchen oder
Junge mehr.
Als
Beleg für die Zufriedenheit von Mark und seiner Mutter wird angeführt, dass er
viele Freunde habe und in der Schule gut zurechtkomme. Aber heißt das nicht im
Umkehrschluss, dass zu befürchten stünde, dass er keine Freunde hätte und nicht
gut in seinem Umfeld zurechtkommen könnte, wenn er ein Mädchen mit einem
stereotyp männlichen Verhalten geblieben wäre? Inwiefern kann man dies als
Fortschritt oder als positiv bezeichnen? Mir scheint eine solche Entwicklung
eher bedrohlich, da sie belegt, dass die stereotypen Vorstellungen von Männer
und Frauen heute gnadenlos und unverrückbar sind. Der Artikel ist illustriert
mit Bildern von einem Gender-Feriencamp, in dem die Teilnehmer andere
Geschlechterrollen ausprobieren dürfen, ohne Ausgrenzung befürchten zu müssen. Die
Tatsache, dass sie diese im normalen Leben zu befürchten hätten, zeigt meines
Erachtens deutlich, dass von einer Liberalisierung bezüglich der Geschlechter
keine Rede sein kann. Ist es etwa ein Fortschritt,
wenn alle als bedrohlich empfundenen Rollenspiele in extra Ferienlager abgeschoben
werden, so dass man sich nicht damit auseinandersetzen muss?
Als
negative Gegenstimme kommt immerhin ein Psychologe zu Wort, der die immer
früher beginnende Hormonbehandlung mit anschließenden operativen Eingriffen als
Homosexualitäts-Verhinderungs-Strategie
beschreibt. So könne atypisches Verhalten auch auf bestimmte sexuelle
Ausrichtungen hinweisen, was durch geschlechtsverändernde Behandlungen, die
noch vor der Pubertät beginnen, nie herausgefunden werden könne. Tatsächlich scheint
es mir viel beunruhigender, dass ich jedem Kind, das sich nicht gemäß der seinem
biologischen Geschlecht zugewiesenen Rolle verhält, signalisiere, dass es diesem
Geschlecht auch nicht mehr zugehören darf. Wenn es ein Mädchen oder ein Junge
bleiben will, muss es sich konform verhalten, ansonsten wird es ins andere
Geschlecht verbannt. Diese Zementierung
der Stereotype kann bereits erkämpfte Freiräume im Verhalten nur verringern.
Man wird nicht mehr damit gehänselt, dass man kein richtiges Mädchen sei, sondern darf nun bereits ab dem frühesten
Kindesalter einfach kein Mädchen mehr sein, wenn man sich anders verhält, als
es den gesellschaftlichen Erwartungen entspricht. Was eine lebenslange
hormonelle Behandlung und frühe operative Eingriffe oder auch die Verhinderung
der Pubertät für gesundheitliche Konsequenzen haben können, steht auf einem
ganz anderen Blatt. Aber offenbar ist es für unsere Gesellschaft bequemer,
diese potenziellen Risiken schon den Kleinsten unter uns zuzumuten, als
toleranter mit unerwartetem Verhalten umzugehen.
Quelle
Martin Spiewak. „Das ist kein Spleen.“ Die Zeit (47) 10.11.2016 41f.
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