Oktober 09, 2009
Die Integrations-Debatte lenkt ab und schlägt neue Schneisen
Wie schön, dass das Interview mit Thilo Sarrazin über misslungene Integration von wichtigeren Themen ablenkt. Die Beschwörung von ausgrenzenden Bildern wie des der Migranten wirkt beruhigend auf die Bevölkerungsmehrheit. Für die Politik ist es ungemein praktisch, dass die Bürger aufgebracht über die im Gegensatz zu den finanziellen Hilfen, die für Banken ausgeschüttet und verbürgt wurden, geringen Beträge debattiert, die für angeblich integrationsunwillige Migranten an staatlichen Geldern ausgegeben werden. Sonst könnte es doch sein, dass einige Menschen sich fragen, wie es sein kann, dass Finanzinstitute riesige Staatshilfen annehmen müssen und dann wieder Boni an ihre Mitarbeiter auszahlen, statt dem Staat etwas zurück zu geben.
Natürlich ist dies eine Vereinfachung, doch es ist nicht zu bestreiten, dass der Bankensektor wegen seiner Systemrelevanz gerettet wurde. Obwohl sich gerade erst erwiesen hat, dass Institute in dieser Größe (mit dieser Relevanz) offensichtlich ganz besonders schlecht für den Staat sind, wird an der Situation nichts geändert. Von hartem Durchgreifen kann in keiner Weise die Rede sein. Natürlich gilt es, Regelungen für einen so großen und zentralen Wirtschaftbereich international festzulegen. Aber gerade dann könnten international organisierte Proteste der Bevölkerungen ein politikfeindliches Klima schaffen, wenn weiterhin nichts passiert.
Besonders in Deutschland, in dem sich die Regierung nach der Wahl erst finden muss, würde eine Debatte über derartige politische Forderungen der Bürger die Politiker nur stören. Neue Allianzen mit Lobbyisten und Bankvorsitzenden müssen doch zunächst einmal geschmiedet, neu ausgehandelt beziehungsweise der neuen Lage angepasst werden. Wie gut also, dass das Land sich lieber über die Integrations-Frage unterhält, statt darüber zu streiten, wie Wirtschaft und Politik in Zukunft neu gestaltet werden müssen. Das Thema der Abgrenzung von fremden kulturellen Gruppen eignet sich gerade in Zeiten der Unsicherheit hervorragend, eine neue gefühlte Einigkeit herzustellen. Besonders jetzt, da die Schere zwischen Arm und Reich noch offensichtlicher in den Vordergrund tritt und Gründe dafür durch die Krise ans Licht treten, ist es für die politische Situation beruhigend, dass die Bürger sich unter dem Label Deutsch sammeln.
Wer Migranten als Problemfeld benennt, unterstreicht automatisch die Zusammengehörigkeit der im Lande lebenden Gruppe. Und diese ist ja im Moment schwer erschüttert. Was läge also näher, als zur Ablenkung eine Debatte um Identität anzuzetteln, die nationale Gefühle anspricht? Da muss man sich als Deutscher selbst nicht mehr am unteren Rand der Gesellschaft sehen, der immer weiter vom oberen Rand abdriftet, sondern kann sich gemeinsam mit allen Reichen als Deutscher fühlen. Nicht nur die Politik, sondern auch die Oberschicht kann sich freuen, dass ihnen doch niemand ihre Privilegien streitig macht. Wo doch gerade so beunruhigende Themen wie eine Reichtumssteuer in der Öffentlichkeit aufgetaucht waren.
Ohne den nationalen und Identität stiftenden Schleier, der durch die Integrations-Debatte ausgebreitet wurde, sieht die Realität nämlich gar nicht schön aus. Wir leben in einem Land, in dem Geld und das Geschäft mit dem Geld wichtiger sind als die Ausbildung unserer Kinder. Das hat die Krise eindrucksvoll gezeigt. In dieser Gesellschaft ist die Erhaltung der Wirtschaft wichtiger geworden, als der Dienst, den sie der Gesellschaft eigentlich erweisen sollte. Die Arbeit ist nicht mehr für die Menschen da, sondern diktiert ihnen ihr Leben. Damit soll nicht gesagt werden, dass die Regierung sich in der Krise falsch verhalten hat. Aber es sollte jetzt endlich darüber nachgedacht werden, wie das internationale Wirtschaftssystem so werden konnte, dass nationale Regierungen in Krisenzeiten nicht anders reagieren können. Es gilt jetzt, darüber nachzudenken, was für die Zukunft dringend geändert werden muss.
Nach jahrelangen Weigerungen, mehr Geld für Bildung zu investieren, war es kürzlich kein Problem schnell und unbürokratisch unvorstellbare Summen für den Finanzsektor zu bewegen. Die Prioritäten sind also klar benannt. Wenn nun eine Debatte entbrennt, dass sich Kinder aus Unterschichten, die nicht richtig Deutsch sprechen und keine Zukunft für sich in diesem Land sehen, alternativen Räumen zuwenden, so ist das längst überfällig. Warum aber wird dieses Problem an Migranten festgemacht? Selbstverständlich liegen alternative Räume mit der ursprünglichen Kultur und Religion bei vielen Zugezogenen nahe, aber dabei handelt es sich lediglich um ein spezifisches Symptom dieser Problematik.
Zudem wird mit dem Fokus auf türkisch-stämmige Migranten ein anderes Problem in den gleichen Topf geworden. Hier muss nach jahrzehntelanger fehlgeschlagener und ignoranter Politik nun einfach hingenommen werden, dass sich eine türkische und muslimische Kultur in Deutschland etabliert hat. Diese sollte nicht länger unterdrückt, sondern endlich aufgenommen werden. Selbstverständlich kann man sich über bessere und verpflichtende Deutschkurse (sowie auch dringend benötigten Unterricht in der Muttersprache) für Einwanderer und ihre Kinder unterhalten. Diese Menschen brauchen vielleicht noch mehr als deutschstämmige Kinder aus der Unterschicht die Hilfe der Gesellschaft, um die erste Hürde zur Partizipation in diesem Land zu nehmen: die deutsche Sprache. Aber Kinder türkischstämmiger (Groß-)Eltern, die in diesem Land geboren wurden, sind ein gänzlich anderer Fall.
Da es durch den Zuzug türkischer Menschen und die Ignoranz gegenüber der Möglichkeit, dass sie in Deutschland bleiben würden, so ergeben hat, dass sich eine besondere deutsch-türkische Kultur entwickelt hat, muss anders reagiert werden. Es ist lächerlich (und unserem ideologisch verblendeten blutsverwandtschaftlichen Staatsbürgerrecht geschuldet), diese Menschen als Integrationsfälle anzusprechen. Es handelt sich um Mitbürger. Gegebenenfalls sind es Mitbürger, die straffällig geworden sind oder die sich staatsfeindlich äußern. Damit wäre allerdings eine strafrechtliche und die Strafverfolgung betreffende Diskussion angesprochen. Auch hier handelt es sich nicht um eine Debatte, die unter der Überschrift Migration an Klarheit gewinnen könnte.
Erkennen wir doch endlich an, dass türkische Einflüsse zu einem Teil Deutschlands geworden sind. Offensichtlich sollte die islamische Religion in den Schulunterricht aufgenommen werden. Bei einer Ganztagsschule und dem Grundgedanken, dass in jedem Religionsfach auch andere Weltreligionen behandelt werden, wäre somit der gegebenenfalls problematische Einfluss von religiösen Führern automatisch eingeschränkt. Machen wir Türkisch endlich zu einer flächendeckenden Fremdsprache, die als Unterrichtsfach belegt werden kann. Schon wären sich die Kulturen nicht mehr so fremd, da auch in Deutschland geborene Kinder mit deutschen Eltern plötzlich in größerer Zahl etwas über den Islam erfahren und Türkisch sprechen würden. Zudem liegt hier ein großes Potenzial für Arbeitsplätze bei der internationalen Verständigung und auch der Krisenbewältigung von Konflikten mit muslimisch geprägten Kulturen.
Selbstverständlich gehört zu einer Annahme dieses Teils unserer Kultur auch, dass man sich gegebenenfalls einer Diskussion über einen angemessenen Umgang mit jugendlichen Straftätern stellen muss, die eben nicht christlich und zentral-europäisch geprägt sind. Zudem wäre es ebenfalls angebracht, zu akzeptieren, dass Lehrerinnen eben nicht nur liberal erzogene Kinder unterrichten und sie darauf vorzubereiten, mit Widerstand gegenüber ihrem Geschlecht umzugehen. Probleme muss man gewiss benennen, bevor man auf sie reagieren kann. Die eben genannten Problemfelder sind jedoch besser und unaufgeregter ohne die Migrations-Überschrift zu bewältigen. Denn es geht ja gerade darum, dass dies die Kultur unseres Landes ist, mit der wir umgehen müssen. Ansonsten kommen leicht fremdenfeindliche Tendenzen auf und die Lösung einer Abschiebung wird am Horizont sichtbar. (Auch eine Massenabschiebung käme den regierenden Politikern gegebenenfalls gelegen, könnten sie dann doch darauf hoffen, dass dies als große Sparmaßnahme gegenüber den riesigen Ausgaben für die Banken gewertet würde.)
Die Schneise, die eine Debatte über bildungspolitische Probleme und den Zerfall in Arm und Reich schlägt, wenn man sie unter der Überschrift Migration und Integration führt, ist offensichtlich. Automatisch ist die Unterschicht gespalten, in der es auch viel zu viele Kinder deutscher Eltern gibt, die (ohne zusätzlich eine Fremdsprache zu können) der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig sind und keine Zukunftschancen für sich sehen. Ein gemeinsamer Kampf wird von vorneherein durch die Einteilung in Wir und Ihr verhindert. Bildungspolitische Bemühungen und solche, die auf eine bessere Verständigung zwischen deutscher und deutsch-türkischer, christlicher und islamischer Kultur abzielen, werden behindert. Einen Gewinn gibt es nicht, denn die Probleme werden nicht etwa endlich klar benannt, sondern ideologisch verklärt.
Bestes Beispiel der desintegrativen, ausschließenden Kraft der momentanen Diskussion war die entsprechende Sendung der Fernsehshow Hart aber Fair vom 07. Oktober 2009. Hier wurde größtenteils an der einzigen anwesenden Muslimin, Frau Kilicarslan, vorbeigeredet, die zwischenzeitlich das Gesicht in den Händen verbarg, statt sie zu diesem Teil unserer Kultur zu befragen, die sie im DITIB vertritt. Nur die negativen Seiten, die sich aus einem solchen kulturellen Hintergrund ergeben können, wurden angesprochen.
Beim Zitieren der Worte, die Deniz Baspinar Anfang des Jahres in ihrer ZEIT-Kolumne geschrieben hatte, kam ein Hoffnungsschimmer auf. Süffisant ironisch beschrieb die Autorin mit türkischen Hintergrund, welche absurden Kriterien der Bewertung von Integration teilweise zugrunde liegen: „Wir sind mit deutschen Männern ausgegangen, haben uns angehört, dass sie nach ihrer letzten Beziehung, die erst fünf Jahre her ist, sich noch nicht wieder auf etwas Neues einlassen können.“ Nur wenige Sätze weiter heißt es in ihrem Beitrag: „Wir haben es offensichtlich nicht in ausreichender Zahl geschafft, diese Männer zum Standesamt zu schleppen, damit die Heirat in die Integrationsstatistik eingeht.“
Bei Plasberg hörte man nur einen kurzen Ausschnitt, doch die Ironie war sofort offensichtlich. Statt innezuhalten und über sich selbst zu lächeln, erdreistete sich Kristina Köhler von der CDU tatsächlich, zu konstatieren, dass dies doch endlich einmal ein Beispiel für gelungene Integration sei. Wie kann man es wagen, bei einer Frau, die in Deutschland lebt und für eine der renommiertesten Zeitungen des Landes arbeitet, durch das Label Integration zu unterstellen, dass sie eigentlich grundlegend anders ist als die anderen Bürger? Welche Rolle sollte ihr kultureller Hintergrund dabei spielen, dass sie als Deutsche anerkannt wird?
Für alle Menschen, die in Deutschland aufwachsen und zur Schule gehen, sollte es der Normalfall sein, dass sie gut Deutsch sprechen und angemessen auf einen Beruf vorbereitet werden. Sie sollten in einer Weise qualifiziert werden, dass sie im Anschluss auch Arbeit finden können. Ein Land, das es nicht schafft, für zahlreiche Haupt- und Realschüler (mit und ohne deutsche Eltern) eine Perspektive zu bieten, sollte sich zuallererst an die eigene Nase fassen. Die Frage nach einer gerechten Verteilung von Arbeit und der Schaffung neuer Arbeitsplätze muss geklärt werden, bevor man danach fragt, wer gegebenenfalls nicht arbeiten will. Exzellente Bildung muss für alle erreichbar gemacht werden, bevor man danach fragt, wer sich ihr gegebenenfalls verweigert.
Weitere Stimmen zum Thema
Jörg Lau leitartikelte in der ZEIT unter der viel versprechenden Überschrift „Unter Deutschen“ und thematisierte die Ausschließung in der aktuellen Diskussion. Letztlich verfiel aber auch er in eine Wir-fordern-von-Euch-Ansprache.
Matthias Kolbeck bespricht in seinem Blog sachlich und präzise die rechtlichen Umstände, in die Sarrazins Äußerungen eingeordnet werden müssen. Allerdings ist es anscheinend auch für ihn kein größeres Problem, dass Sarrazin die oben genannten Probleme in dieser unschönen Weise vermischt.
Reinhard Mohr hat die Sendung von Hart aber Fair informiert im SPIEGEL kritisiert, aber auch er bleibt dabei, dass es darum gehe, Wahrheiten auszusprechen.
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