Juli 19, 2011

Der angeborene Unterschied


Wann immer wir anfangen anzunehmen, dass etwas angeboren, unauslöschlich oder unveränderbar ist, machen wir einen Fehler. Bei Differenzen zwischen kulturellen oder ethnischen Kreisen nennt man dieses Konzept Rassismus (vgl. Fredrickson, 2011 15). Aber ist es nicht auch ein gefährliches Konzept im Bezug auf unsere eigene Spezies als ganze Spezies?

Angeborene Unterschiede (z. B. charakterliche) können im Bezug auf nur eine Spezies natürlich nicht zur qualitativen Unterscheidung verschiedener Rassen dienen. Aber genau wie bei rassistischen Definitionen ergibt sich daraus die Entschuldigung des Nicht-Handelns. Wird ein Angehöriger einer bestimmten ethnischen Gruppe als unveränderlich dumm angesehen, eben weil er dieser Gruppe angehört, habe ich damit nicht nur ihn und seine Gruppe im Vergleich zu mir und meiner Gruppe abgewertet, sondern ich habe auch eine Rechtfertigung dafür entworfen, nicht zu handeln. Ich muss nicht versuchen, den anderen zu erziehen oder zu bilden, denn er ist ja von Geburt an dumm.

Ähnlich scheint mir das Konzept der angeborenen charakterlichen Eigenschaften bei Kindern zu funktionieren, sobald man annimmt, sie seien unveränderlich. Sieht man sie (z. B. trotz der genetischen Grundlagen) als veränderbar an, dann macht es keinen Unterschied mehr, ob eine Eigenschaft ursprünglich angeboren oder anerzogen ist (wobei weder das eine noch das andere jemals zu beweisen sein dürfte).

Es scheint mir sicherer, von anerzogenen Unterschieden auszugehen, denn dann ist sofort klar, dass es sich lohnt, z. B. Schulsysteme zu ändern, um positiv auf die Entfaltung der Kinder einzugehen. Genauso haben wir einen Grund, uns für die Veränderung gesellschaftlicher Ordnungen einzusetzen, da Menschen nicht inhaltlich auf bestimmte Verhaltensweisen festgelegt sind. Mit der Formulierung inhaltlich möchte ich hier von systematischen Kompetenzen abgrenzen, die man ggf. sehr wohl als unveränderlich ansehen kann. Ich glaube z. B., dass es Kommunikationsstandards geben muss, derer wir uns alle bedienen und die höchstwahrscheinlich angeboren sind, denn sonst könnten wir uns nicht verständigen.

Wenn der Blick auf solche tatsächlich unveränderlichen Standards durch unsere spezifische Kultur und Sozialisation vielleicht getrübt ist, müssen wir erst recht von einer Beeinträchtigung unseres Urteils ausgehen, wenn es um die Zuschreibung vermeintlich angeborener inhaltlicher Eigenschaften geht. Auch der Blick auf die Geschichte lehrt uns, dass – wann immer Menschen versucht haben, Rassen, Kinder, Frauen oder sonstige Kategorien zu definieren – das Verständnis einer Zeit noch nie die nächsten Generationen überdauert hat. Selbst bei großen Konzepten wie etwa der Religion oder der Liebe, die es nach Jahrhunderten der Menschengeschichte noch immer gibt, müssen wir feststellen, dass sie nur vordergründig gleich geblieben sind, sich inhaltlich aber völlig verändert haben (vgl. Luhmann, 2003).

Ich plädiere in dieser Hinsicht dafür, Unterschiede – die wir im täglichen Leben ja wahrnehmen und die wir daher auch nicht leugnen können – immer als kontingent aufzufassen. Die Formulierung von inhaltlichen Kategorien die das Leben betreffen (Nahrungsaufnahme etc. würde ich in einen extra Bereich von Vor-Voraussetzungen einordnen) als unveränderbar birgt immer die Gefahr der Opposition, Abgrenzung, Ausgrenzung und der unterlassenen Hilfeleistung. Jede Situation kann mein Handeln erfordern – aus dieser Verantwortung darf ich mich nicht stehlen, indem ich auf unabänderliche Tatsachen wie angeborene Unterschiede verweise.

Zuletzt bleibt auf das Problem des Appells an solche Verantwortung unter Verweis auf Diskriminierung hinzuweisen. Dieser Verteidigungs-Anspruch baut zu einem gewissen Grad darauf auf, dass es Unterschiede gibt, die nicht mehr geändert werden können, weswegen besondere Rücksichtnahme angebracht ist. Solange davon ausgegangen wird, dass eine gewisse Diversität der Gesellschaft besteht und auch wünschenswert ist, kann man dafür argumentieren, dass alle Unterschiede in der Konstituierung der Gesellschaft auf eine Art und Weise berücksichtigt werden müssen, dass alle Menschen frei leben können.

Nicht akzeptabel ist allerdings m. E. z. B. der Anspruch eines Menschen mit Lese-Rechtschreibschwäche, der unter Berufung auf Diskriminierung geltend macht, dass er nicht daran gehindert werden dürfe, Deutschlehrer zu werden. Entweder ich gehe davon aus, dass er gewisse Fähigkeiten eben nicht hat – dann kann er auch nicht Deutschlehrer werden. Oder ich versuche, darauf hin zu wirken, dass seine Deutsch-Fähigkeit in dem Maße ausgebildet wird, dass er seine Berufswünsche frei verwirklichen kann. Wenn er darauf plädiert, dass er in einem bestimmten Bildungssystem nicht bestmöglich ausgebildet wird, dann argumentiert er auf einen Anspruch der Gleichberechtigung, der eben nur dann greift, wenn ich daran festhalte, dass alle Menschen die gleichen Ansprüche auf gleiche Möglichkeiten haben. Argumentiert er selbst mit seiner Unfähigkeit, diese Möglichkeiten zu verwirklichen, scheint mir sein Anspruch widersprüchlich zu werden, da er bereits seine eigene Nicht-Gleichheit postuliert.

Quellen:

Fredrickson, George M. Rassismus. Stuttgart: Reclam, 2011.
Luhmann, Niklas. Liebe Als Passion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003.

Juli 18, 2011

The Bothering Species


Last year I read Juliet, Naked by Nick Hornby and stumbled over a paragraph that seems to tell us something important about human nature.

“She wondered why someone would bother to do that; but then, ‘Why bother’ was never a question you could ask about more or less anything on the internet, otherwise the whole lot shrivelled to a candyfloss nothing. Why had she bothered? Why does anybody? She was for bothering, on the whole; in which case thank you ... everybody else, on every other website” Nick Hornby, Juliet, Naked (London: Penguin, 2010) 44.

Are they not, indeed, impressive – all the things we do on the Internet every day? How we do bother all the time. How we think it is important to tell others about how we feel and what we think about more or less everything. We do not only show this kind of behavior on the internet, of course, but there it is blatantly clear that we do not have to do it. Even if someone is writing an e-mail to us or posting a commentary on our blog, we could simply turn off the computer. It is easier to ignore an electronic sign than a question or assertion that is made face to face.

So why do we bother so intensively? It must be because we are so deeply a social and communicative species that we actually live in the realities we create through our communication. Once we stopped bothering about them, they would crumble and leave us with nothing. As we cannot create these realities on our own (after all, communication is at least a two-way street) we desperately need someone else’s feedback. This is why we bother, because we have no other chance to survive.

Even people who seem to have stopped bothering and live callous lives, bother to a certain extent. At least they take a stance toward the created realities and condemn them as not worth engaging in. Thereby, they create an anti-reality for which they want encouragement in so far that they tell you how they do not bother. Can anyone be alive without bothering at all? I really do not think that is possible.

Juli 16, 2011

Das Unbehangen an der Hochkultur


Im Feuilleton der ZEIT wurde dieser Tage um die Hochkultur gestritten. Trotz der fadenscheinigen Einbettung dieser Frage in einen Hintergrund der Finanzierung von Kultur aus öffentlicher Hand, ist dieses Thema eine eingehendere Betrachtung Wert. Es wurde unter anderem versucht, die Unterscheidung zwischen Hochkultur und Popkultur mangels verlässlicher Maßstäbe zu dekonstruieren. Ich möchte im Folgenden einige Gedanken zu einer solchen Differenzierung festhalten. Dabei ist es allerdings unerlässlich, kurz auf die angesprochenen finanziellen Hintergründe einzugehen.

Aufhänger der ZEIT-Artikel ist eine Rechtfertigung der öffentlichen Subventionen für vermeintlich höherwertige Kultur trotz des geringen Prozentsatzes der profitierenden Bevölkerung. Dies scheint mir eine Scheindebatte zu sein. Wenn man bedenkt, dass laut Bundeszentrale für politische Bildung die Gesamtausgaben der öffentlichen Haushalte für den Kulturbereich 2008 bei lediglich 1,62 Prozent ihres Gesamtetats lagen (Quelle: Statistisches Bundesamt), dann scheint es regelrecht lächerlich, sich über eine spezifische Rechtfertigung von Ausgaben in dieser Größenordnung Gedanken zu machen. Kulturausgaben an sich können in ihrem grundsätzlichen Wert für eine vielfältige Gesellschaft m. E. kaum bezweifelt werden. Zunächst muss man also festhalten, dass eine Debatte über Hochkultur und Popkultur keinerlei Auswirkungen auf die öffentlichen Ausgaben im Kultursektor haben sollte. Wenn derartige Argumente zur Frage der Subventionen herangezogen werden, dann nur, um offensichtlich nicht zu rechtfertigenden Kürzungen einen demokratischen Anstrich zu geben.

Abgesehen von der absurden Fassade attestiert Jens Jessen den westlichen Gesellschaften zutreffend ein Unbehagen an der Hochkultur und den damit einhergehenden sozialen Differenzierungen. Spätestens seit Walter Benjamin in seinem berühmten Aufsatz über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit einen hoffnungsvollen Abgesang auf die Aura der Kunstwerke gesungen hat, steht die Frage nach der Differenzierung von Hochkulturgütern im Gegensatz zu massenproduzierter (und massenproduzierender) Kunst im Raum. Betont nüchtern und objektiv möchte Jessen nun auf diesem Unterschied beharren und schmilzt ihn letztlich auf die soziale Selektion zusammen. Statt sich im Anschluss aber folgerichtig ganz auf Fragen der sozialen Macht zu konzentrieren, bringt er doch eine inhaltlich qualitative Argumentation ins Spiel. Güter der Hochkultur „versprechen … hohen Unterhaltungswert, nur freilich auf einem anderen Niveau, der Komplexität, aber auch der Bildung, die sie voraussetzen. Für die einen ist Philip Roth zu kompliziert, um unterhaltend zu sein; für die anderen Dan Brown zu simpel. Das ist alles, aber wahrscheinlich auch schon der Kern des Skandals. Der Begriff der Hochkultur sortiert das Publikum“ (Jessen, 2011).

Ich möchte an dieser Stelle auf einen Fehlschluss hinweisen. Auch ich würde wie Jessen und auch Thomas Assheuer in der gleichen Ausgabe für eine Förderung der Kultur argumentieren. Wie die beiden sehe ich durchaus einen Zusammenhang zwischen ästhetischer Erfahrung und individueller Entwicklung, bis hin zum demokratischen und Freiheits-Bewusstsein. Entgegen dem Beitrag von Kathrin Passig, die in einem Interview eine Abgrenzung der Hochkultur durch Reduktion auf geschmackliche Präferenz komplett nivellieren möchte, würde ich Jessen insofern zustimmen, als dass man etwas mit der Bezeichnung Hochkultur ausdrückt. Es handelt sich nicht um eine leere Worthülse. Und doch, kann nicht einfach von Differenz auf Niveau geschlossen werden, wie er es tut.

Selbstverständlich setzt der differenzierte Genuss eines Kunstwerkes eine bestimmte Bildung voraus (neutraler könnte man hier Sozialisation oder Enkulturation sagen). Aber nur, weil die sogenannte Popkultur auf soziales Wissen zurückgreift, das durchschnittlich breiter verteilt ist als das Wissen, das man zum Genuss der Hochkultur benötigt, kann man hier noch nicht von einem höheren Niveau sprechen. William Shakespeares Theaterstücke griffen zu seiner Zeit z. B. auf weit verbreitete gesellschaftliche Diskurse zurück und können im Zeitraum ihrer Entstehung sicher eher als populäre Kultur beschrieben werden. Differenz ist nicht gleichbedeutend mit Niveau und Komplexität bedeutet nicht automatisch Qualität. Zunächst sollte festgehalten werden, dass ein breiteres Wissen grundsätzlich den Genuss jedes Kunstwerkes erhöhen kann – egal ob Pop- oder Hochkultur. Wie Jessen feststellt, zitiert auch die populäre Kunst die Hochkultur (ob unbewusst oder bewusst) und eine größere Bildung befähigt den Kunstbetrachter dazu, mehr und komplexere Verknüpfungen zu jedem Werk anzustellen. Hier kann man also eine größere Möglichkeit des Genusses konstatieren; ob die verschiedenen Ebenen vom Betrachter auch tatsächlich als Genuss erfahren werden, sei dahingestellt.

Eine Argumentation für eine vielfältige Kultur (und deren Förderung) sollte doch vielmehr auf der Ebene des sozialen Nutzens vorgenommen werden als auf einer Ebene des vermeintlichen Niveaus. Je größer der Zugang zu komplexen Werken, die spezielles Wissen voraussetzen (und damit potenziell fördern), desto größer die Chance Betrachtern Zugang zu komplexem Wissen und Denken zu verschaffen. Die Erfahrung des ästhetisch Alternativen oder Speziellen (die beliebte Wendung des Anderen, scheint mir eher verwirrend als erhellend) kann somit Bildung fördern und sollte in einem Maß vorgehalten werden, das es der ganzen Bevölkerung erlaubt, davon zu profitieren. Ist nicht der eigentliche Skandal eher, dass wir als Gesellschaft offenbar eine große Masse an Menschen produzieren, die von diesem Mehrwert der Kultur systematisch ausgeschlossen wird? Wer Hochkultur (also spezielle Kultur) in diesem Sinne als Mittel sozialer Ausgrenzung nutzt – und eine derartige Tendenz scheint mir auch bei Jessen anzuklingen – oder wer diese kulturellen Spielarten gleich komplett abschaffen möchte, verhält sich skandalös, weil er Menschen von diesem potenziellen Genuss und dieser potenziellen Bildung ausschließt.


Quellen:

Assheuer, Thomas. „Schock der Bilder.“ DIE ZEIT 7 Juli 2011 46 http://www.zeit.de/2011/28/Assheuer-Hochkultur (16.7.2011).

Benjamin, Walter. „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.“ http://walterbenjamin.ominiverdi.org/wp-content/kunstwerkbenjamin.pdf (16.7.2011).

Jessen, Jens. „Hoch die Hochkultur!“ DIE ZEIT 7 Juli 2011 45 http://www.zeit.de/2011/28/Hochkultur (16.7.2011).

Mangold, Ijoma. „’Kultur sollte behandelt werden wie Nachtisch’ Die Autorin und Internetexpertin Kathrin Passig über Wichtigtuerei, Mainstream und blinden Kulturkonsum.“ DIE ZEIT 7 Juli 2011 46.